Revival mit Abgrenzungen: Monteverdis L'Orfeo am Opernhaus Zürich (2024)

Wer erst zum vierten Akt käme, würde nicht herausfinden, wo sich die Handlung gerade abspielt. Der leere Raum, erleuchtet von Neonröhren, versprüht den Charme einer Leichenhalle in einem Spital. In einem hellgrauen Sarg liegt eine junge Blondine im Brautkleid. Der neben ihr verzweifelt singende und gestikulierende Mann muss der Witwer sein. Weiteres Personal sind ein als Quizmaster gekleideter älterer Herr und eine in ein langes Lack- und Lederkleid gehüllte Dame...

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Miriam Kutrowatz (Euridice), Simone McIntosh (Proserpina) und Mirco Palazzi (Plutone)

© Monika Rittershaus

Auflösung des Rätsels: Wir befinden uns in der Unterwelt, wo Orfeo versucht, durch seinen Gesang das Mitleid des Totengottes Plutone und dessen Gattin Proserpina zu erwecken, auf dass er seine durch einen Schlangenbiss getötete Gattin wieder in das Reich der Lebenden zurückführen kann. So stellt sich der berühmte Unterweltakt aus Claudio Monteverdis L’Orfeo am Opernhaus Zürich in der Inszenierung von Evgeny Titov, dem Bühnenbild von Chloe Lamford und Naomi Daboczi sowie den Kostümen von Annemarie Woods dar.

Das Opernhaus Zürich und Monteverdi – das ist eine Erfolgsgeschichte, die die Opernwelt verändert hat. In den späten 1970er Jahren haben hier der Dirigent Nikolaus Harnoncourt und der Regisseur Jean-Pierre Ponnelle die bis dato nur in Fachkreisen bekannten Opern L’Orfeo, L’incoronazione di Poppea und Il ritorno d’Ulisse in Patria in exemplarischen Realisierungen auf die Bühne gebracht und damit die weltweite Monteverdi-Renaissance in die Wege geleitet. Unter Andreas hom*oki, dem gegenwärtigen Intendanten, ist in den letzten Jahren ein neuer Monteverdi-Zyklus entstanden, der vor allem szenisch neue Wege sucht. Er begann 2014 mit Ulisse in der Regie von Willy Decker, es folgten 2018 Poppea in der Regie von Calixto Bieito, 2022 das Ballett Monteverdi von Christian Spuck und nun Orfeo in der Regie von Evgeny Titov.

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Zürcher Sing-Akademie

© Monika Rittershaus

Der vom Sprechtheater herkommende Regisseur scheint mit der Absicht angetreten zu sein, alles anders zu machen als Ponnelle im Jahr 1978. Wer zu jung ist, um die damalige Produktion wie der Schreibende selbst erlebt zu haben, kann sie sich auf YouTube in einem Video (in schlechter Bildqualität) ansehen. Ponnelles Bühne zeigte ein barockes Opernhaus, das dem Uraufführungsort nachempfunden war; die Rückwand suggerierte eine liebliche arkadische Landschaft. Die beiden Unterweltakte spielten in einem furchterregenden, mit Totenschädeln dekorierten Ambiente.

Bei Titov bildet der Tod geradezu die szenische Leitplanke. Wenn der Vorhang aufgeht, sehen wir eine Steinwüste – es könnte eine dieser unbewohnten Inseln in der Ägäis sein. Euridice liegt bereits im offenen Sarg, nur ihr Kopf mit dem Brautschleier ist sichtbar. Orfeo schaufelt ein Grab für die frisch Angetraute. Pünktlich zu ihrem Eröffnungsgesang erwacht Euridice, steht auf und singt von ihrer Liebesfreude. Die Hirten und Nymphen des Librettos sind hier Brautpaare, die mit Orfeo und Euridice mitfeiern und sich dabei wie bei einem Polterabend benehmen. Die Gleichzeitigkeit von Partystimmung und Todesgegenwart ist charakteristisch für diese Inszenierung. Wenn im zweiten Akt die Messagera den Tod Euridices verkündet, wissen wir schon längst, dass alles Glück nur Schein ist.

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Krystian Adam (Orfeo), Miriam Kutrowatz (Euridice) und Josè Maria Lo Monaco (La musica)

© Monika Rittershaus

Titov richtet sich mit seiner Ästhetik des Heterogenen und der feinen Ironisierungen an eine Zuhörerschaft, die diese Oper bereits kennt. Ein Orfeo-Abend für Fortgeschrittene gewissermaßen. Eine Inszenierung zudem, die den Geist unserer Zeit atmet, die den Glauben an die Eindeutigkeit und die Wahrhaftigkeit der großen Erzählungen verloren hat.

Aufschlussreich ist auch der Vergleich zwischen Harnoncourt und Ottavio Dantone, der die aktuelle Produktion dirigiert. Harncourt war damals der Papst der historisch informierten Aufführungspraxis, die sich noch längst nicht überall durchgesetzt hatte. Heute ist diese Allgemeingut geworden, und es gibt in dieser Szene mittlerweile viele Papabili und unterschiedliche stilistische Ausprägungen. Dantone, der schon die Zürcher Poppea-Produktion dirigiert hat, ist von der Quellenlage her in einer komfortableren Situation als damals Harnoncourt. Stand diesem nur die unzuverlässige Monteverdi-Gesamtausgabe von Francesco Malipiero zur Verfügung, kann Dantone für den Notentext von Orfeo auf die 2016 erschienene Kritische Ausgabe von Bernardo Ticci zurückgreifen, die er für die aktuelle Produktion noch etwas bearbeitet hat.

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Krystian Adam (Orfeo) und Simone McIntosh (La speranza)

© Monika Rittershaus

Zu hören ist im Resultat eine sehr farbenfrohe Musik, was sich einerseits im szenenbezogenen Wechsel zwischen Streich-, Holz- und Blechinstrumenten, andererseits in der reich besetzten Generalbassgruppe zeigt. Das hauseigene Barockorchester La Scintilla und die zugezogenen Spezialisten machen bei der Premiere einen grossartigen Eindruck. Im Vergleich mit Harnoncourt ist Dantones Interpretation im Charakter jedoch weniger leidenschaftlich und in der Artikulation weniger pointiert. Der Papst war halt nicht umsonst der Papst.

Für die Titelrolle des Orfeo ist Krystian Adam für den ursprünglich vorgesehenen Thomas Erlank eingesprungen. Der Monteverdi-erprobte Sänger fügt sich in das szenische Konzept des Regisseurs sehr gut ein und brilliert gesanglich insbesondere in seiner grossen Beschwörungsarie in der Unterwelt mit stilistisch lupenreinen Koloraturen und Verzierungen. Die Euridice von Miriam Kutrowatz ist zwar vom Plot her die weibliche Hauptfigur, aber ihr Gesangspart ist klein. Ihre leichte, etwas entrückte Stimme passt indes gut in das Konzept.

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Mark Milhofer (Apollo), Miriam Kutrowatz (Euridice) und Krystian Adam (Orfeo)

© Monika Rittershaus

Um kleinere Rollen handelt es sich auch bei den übrigen Figuren, so dass man aus Ökonomiegründen Doppelbesetzungen vorgenommen hat. Josè Maria Lo Monaco singt neben der Musica auch die Messagera, Simone McIntosh neben der Speranza auch Proserpina und Mirco Palazzi neben dem Fährmann Caronte (unsichtbar aus dem Off) auch Plutone. Singulär besetzt ist der Apollo von Mark Milhofer. Als Deus ex machina in einem blinkenden Zirkusdirektorgewand will er Orfeo in den Götterhimmel mitnehmen. Und die Nymphen und Hirten – Mitglieder der von Marco Amherd hervorragend einstudierten Zürcher Sing-Akademie – ermuntern den untröstlichen Sänger ebenfalls zu diesem Schritt.

Doch Orfeo überlegt es sich anders, kehrt zu Euridices Sarg zurück und erschiesst sich. Monteverdi hatte eigentlich ein glückliches Ende vorgesehen.

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Revival mit Abgrenzungen: Monteverdis L'Orfeo am Opernhaus Zürich (2024)
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